Luther und Jena

Luther und Jena

Vortrag im „Schwarzen Bär“ Jena
von
 Prof. em. Dr. Helmut G. Walther
am 28.02.2022

Es ist auffällig, dass die Stadt Jena in Martin Luthers Lebenslauf gleich mehrfach in Situationen auftaucht, als es um entscheidende Weichenstellungen in seinem Lebenslauf geht.

Dabei scheint er zum ersten Mal in der Nacht vom 3. auf 4., wahrscheinlicher jedoch vom 4 auf 5. März 1522, also vor nunmehr 600 Jahren, auf einer Reise die Stadt betreten zu haben und hier im Gasthaus „Schwarzer Bär“ vor den Mauern übernachtet zu haben.

Doch schon zuvor hatte Jena für die Ausrichtung seines Lebenswegs indirekt eine wichtige Rolle gespielt: 1505 hatte Luther das von seinem Vater gewünschte lukrative Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Erfurt aufgegeben und war in den dortigen Konvent der Augustinereremiten eingetreten. Dieser Bettelorden war wie auch die anderen Mendikanten damals gespalten zwischen auf absoluter Regeltreue beharrenden und einer Reform zugeneigten Gemeinschaften, den sog. Observanten, und den eine laxere Regelauffassung gestattenden sog. Konventualen. Rund 30 deutsche ObservantenKlöster hatten sich in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts zusammen-geschlossen und bildeten innerhalb des Ordens unter einem Generalvikar eine eigenständige Kongregation. Erfurt war ein Teil dieser Kongregation, sein Prior Johannes Natin war ein Vertreter der strengsten Observanzrichtung. Seit 1507, nach seiner Priesterweihe, studierte Luther Theologie in Erfurt und kurzzeitig auch an der 1502 vom sächsischen Kurfürsten Friedrich d. Weisen neugegründeten Wittenberger Universität, deren theologisches Profil damals vom Augustinereremiten Johann von Staupitz geprägt wurde. Staupitz fungierte nicht nur seit 1503 als Generalvikar der Augustiner-Observanten, sondern wurde zusätzlich 1509 zum Generalvikar des Gesamtordens (also einschließlich der Klöster der Konventualen) für die sächsisch-thüringische Provinz gewählt. Eine päpstliche Bulle beauftragte ihn nun, in seiner Provinz eine Vereinigung der Konventualen mit den Observanten herbeizuführen. Dagegen protestierten sieben observantische Klöster unter Führung Erfurts. Prior Natin schickte den Bakkalar Luther mit einem Mitbruder 1510 nach Rom, um eine Aufhebung der Bulle zu erreichen, ohne Erfolg freilich. Staupitz beriet darauf im Juli 1511 in Jena mit Gesandten der 7 protestierenden Klöster einen Kompromiß und formulierte dafür einen sog. „Jenaer Rezeß“. Die Augustiner in Erfurt wie in den anderen sechs Konventen lehnte diese Kompromißlösung jedoch mehrheitlich ab. Luther akzeptierte ihn dagegen für sich persönlich und wechselte in das Wittenberger Augustinerkloster und damit zugleich seinen theologischen Präzeptor. An die Stelle Natins trat Staupitz. Wir sehen daher: Eine in Jena gefundene ordensinterne Entscheidung sorgte also letztlich dafür, dass Wittenberg der künftige Lebensmittelpunkt Luthers mit allen daraus sich ergebenden Konsequenzen wurde.

11 Jahre später war die Situation der Kirche wie diejenige Luthers total anders: Der inzwischen als Theologieprofessor in der Nachfolge von Staupitz in Wittenberg lehrende Luther war zum Medienstar mit seinem in Flugschriften geworden: Sein auch in ihnen propagiertes reformatorisches Programm hatte seit 1520 reichsweite Wirkung und Unruhe erzeugt. Er war inzwischen durch päpstlichen Bann aus der katholischen Kirche ausgeschlossen, war vom Kaiser im April 1521 auf dem Reichstag in Worms zum Widerruf aufgefordert worden, hatte sich dort durch seine Weigerung die Reichsacht eingehandelt und war noch vor deren Verkündigung durch die schützende Hand seines Kurfürsten auf die Wartburg in Sicherheit gebracht worden. Literarisch wirkte er von dort aus weiter, am nachhaltigsten sicher durch seine Übersetzung des Neuen Testaments („Septembertestament“). Die praktische Umsetzung von Kirchenreformmaßnahmen musste aber ohne seine Anwesenheit erfolgen – und sie entwickelte sich in Wittenberg in eine Richtung, die nicht das Wohlwollen Luthers, vor allem aber der kursächsischen Obrigkeit fand.

Besonders sein älterer Wittenberger Theologenkollege Andreas Bodenstein aus Karlstadt erwies sich als Scharfmacher bei der Durchsetzung von Reformmaßnahmen in der Stadt, so dass sich Luther im Februar 1522 zum Abbruch seines Wartburgexils als Junker Jörg und sich gegen den Willen Friedrichs d. Weisen zur Rückkehr nach Wittenberg entschloss.

Auf dem Weg dorthin übernachtete er noch als Junker Jörg im Jenaer „Schwarzen Bären“ des Nikolaus Börner (3./4. bzw. 4./5.3.1522). Der St. Galler Theologiestudent Johannes Keßler und sein gleichfalls von dort kommender Kommilitone Johannes Spengler hatten auf dem Weg von ihrem bisherigen Studienort Basel nach dem nun in aller Munde befindlichen Wittenberg dort Zuflucht gefunden und kamen mit ihm dem am Tisch sitzenden Junker Jörg ins Gespräch über akademische und theologische Fachfragen. Luther identifizierten sie in ihrem Gesprächspartner nicht. Jedenfalls behauptete das im Rückblick Keßler in seiner wohl 1523 begonnenen anekdoten- gespickten St. Galler Reformationschronik Sabbata, und die lutherische auf die Biographie des sächsischen Reformators zentrierte Reformationsgeschichtsschreibung griff diese Episode gerne auf, um ihr heroisch angelegtes Lutherbild mit dieser Episode zu ergänzen. 1861 hielt Otto Schwerdgeburth dieses Treffen in einem Gemälde fest – und seitdem hängt es im „Schwarzen Bären“ und ist Teil der Jenaer Lutherlegende, die ihren Höhepunkt in Otto Devrients Lutherfestspiel von 1883 [Luther. Historisches Charakterbild in sieben Abtheilungen. Ein Festspiel zur vierhundertjährigen Geburtstagsfeier Luthers, dargestellt von Bewohnern Jenas] erreichte. Bis 1924 wurde das Festspiel in Jena gegeben, in dem Devrient bis zu seinem Tode gern als Luther auftrat.

1521 im Dezember war Luther schon einmal heimlich von der Wartburg aus nach Wittenberg gereist und hatte den dortigen Bildersturm miterlebt. Ob er dabei auch über Jena kam, wie man aus einer beiläufigen Bemerkung in der Reformationsgeschichte des Gothaer Reformators Friederich Myconius folgern könnte, ist freilich nicht sehr wahrscheinlich.

Vielmehr ist der längste und eindrücklichste Luther-Aufenthalt in Jena für das Jahr 1524 anzusetzen. Wieder bildet eine gewichtige Wende im Reformationsgeschehen den Hintergrund und ist Andreas Karlstadt der Auslöser. Dieser radikale Reformer hatte auf Betreiben Luther i n Wittenberg 1522 Publikationsverbot erhalten, sich mit der Universität überworfen und wich als Pfarrer nach Orlamünde aus. Dort bildete er bald ein personales Netzwerk aus, das in Jena seinen ehemaligen Wittenberger Schüler Martin Reinhard, Prediger an der Stadtkirche und seinen damals in der Stadt wirkenden Schwager Dr. Gerhard Westerburg wie auch den Pfarrer von Kahla u. a. umfasste. Luther unternahm im Sommer 1524 eine Visitationsreise in das Saaletal, um die von ihm mißbilligte Ausrichtung der Reformation zu unterbinden. Die Reise richtete sich nicht nur gegen Karstadt und seine Anhänger, sondern auch gegen die wachsende Anhängerschaft des Thomas Müntzer in dieser Region. So kam es, dass Luther in Jena am 22. August 1524 am Nachmittag in der Stadtkirche St. Michael gegen Reinhard, Karlstadt und Müntzer von der Kanzel predigte, ohne dass die beiden ersten von ihm beim Namen genannt wurden. Dabei saßen Reinhard und Karlstadt persönlich als Zuhörer unter der Kanzel! Hinterher kam es im „Schwarzen Bären“ zu einem längeren Gespräch zwischen Luther und Karlstadt. Es ist nicht ganz zuverlässig durch Reinhard protokolliert und publiziert worden. Es geriet den Kontrahenten zu einer akademischen Disputation, in der sich beide Seiten persönlich beschimpften und auf ihren theologischen Positionen verharrten. Karlstadt verwahrte sich aber zurecht gegen Luthers Identifikation seiner Lehren mit denen Müntzers.

Am nächsten Tag reiste Luther weiter nach Kahla, am 24. August nach Orlamünde, wo es zu einer erneuten Kontroverse mit Karlstadt kam. Die Gemeinde in Orlamünde stellte sich aber voll hinter ihren Pfarrer. Luther ließ deshalb nach seiner Rückkehr Karlstadt aus dem Kurfürstentum Sachsen ausweisen. Mögen die vorliegenden Berichte über die Jenaer und Orlamünder Auseinandersetzungen der beiden Theologen auch nicht unparteiisch sein, so zeigen sie Luther jedenfalls nicht von einer auf Ausgleich und Versöhnlichkeit bedachten Seite, eher in der Rolle eines Ketzerinquisitors.

Genug zum Verhältnis von Jena und Luther! 1528, 1529, 1530, 1537 und 1540 kam dieser unter weniger dramatischen Umständen auf alle Fälle noch einmal durch Jena. Beim Aufenthalt im Oktober 1529 auf der Rückreise vom Marburger Religionsgespräch mit Zwingli predigte er wieder in Jena, freilich nicht – wie es die Ortslegende bis heute will – von einem Felsvorsprung der sog. „Lutherkanzel“ im Leutratal. Die 1548 zunächst als Provisorium begründete Universität in Jena, die für den entmachteten Kurfürsten Johann Friedrich die verloren gegangene Universität Wittenberg ersetzen sollte und hinfort als das „wahre Wittenberg“ und Hort der einzig richtigen lutherischen Lehre galt, druckte nicht nur die „offizielle“ Ausgabe der Schriften Luthers. Seit der Aufstellung seiner ursprünglich vom Kurfürsten Johann Friedrich für die Schloßkirche in Wittenberg vorgesehenen bronzenen Grabplatte in der Stadtkirche St. Michael, die auch als Universitätskirche diente, hat der Reformator nun auch im Bildnis auf Dauer seined Heimstatt hier in Jena gefunden.

Prof. em. Dr. Helmut G. Walther

 

Mittelalterliche Geschichte

Vita:

  • Geb. 1944 in Bayreuth
  • 1963-1970 Studium der Fächer Geschichte, Deutsch, Politologie und Philosophie, Universität Erlangen-Nürnberg, FU Berlin, Konstanz
  • 1968 Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien
  • 1970 Promotion an der Universität Konstanz bei Arno Borst und Waldemar Besson
  • 1970-1978 wiss. Angestellter und wiss. Assistent
  • 1978 Habilitation Universität Konstanz
  • 1980-1993 Prof. (bzw. apl. Prof.) für Mittlere und Neuere Geschichte Universität Kiel
  • Gast- und Vertretungsprofessuren an der Universität Göttingen, am Deutschen Historischen Institut Rom sowie an den Universitäten Hannover, Münster, Freie Universität Berlin und Rostock
  • Seit dem 1. April 1993 FSU Jena Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte
  • seit Dezember 1993 im Fakultätsrat
  • von April 1994 – März 1996 Prodekan
  • April 1996 – März 1998 Dekan der Philosophischen Fakultät
  • Herausgeber der Reihe „Orbis mediaevalis“ (Akademie Verlag) und „Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena“

Forschungsfelder:

  • Soziale Trägergruppen politischer Ideen im Mittelalter
  • Staatsbildungsprozeß im späteren Mittelalter
  • Ketzergeschichte des Mittelalters
  • Beziehungen zwischen Abendland und Islam
  • Rezeptionsgeschichte des Mittelalters

Publikationen (Auszug):

  • (Hg.) Aufbrüche. 450 Jahre Hohe Schule Jena, Jena 1998.
  • (Hg.) Erinnerungen an einen Rektor. Friedrich Zucker (1881-1973) (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 4), Rudolstadt u. Jena 2001(8)
  • (Hg.) Joachim Bauer/Dagmar Blaha/Helmut G. Walther, Dokumente zur Frühgeschichte der Universität Jena 1548 bis 1558 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 3/I), Weimar u. Jena 2003.
  • Von der Veränderbarkeit der Welt. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Stephan Freund, Klaus Krüger und Matthias Werner, Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 2004